Unter dem Titel … mein Werther – dein Werther – unser Werther … „Die Leiden des jungen Werthers“ – Ein Roman überwindet Grenzen wird hier die neue, internationale Werther-Abteilung der Stadtbibliothek Wetzlar erstmals der Öffentlichkeit präsentiert.
Damit findet ein Projekt, das vor fast zwei Jahren mit einer Lottehausführung mit Teilnehmerinnen und Teilnehmern eines Deutschkurses der VHS Wetzlar begann, seinen – vorläufigen – Höhepunkt. Kuratiert wird die Ausstellung von Katharina Lehnert-Raabe, die seit vielen Jahren unserer Gesellschaft angehört und als Mitglied des Beirats für die Betreuung unserer Referentinnen und Referenten verantwortlich ist und zugleich auch Organisatorin des gesamten Projekts ist. Den 28. April 2010 werde sie nie vergessen, berichtet sie, jenen Tag, an dem sie die Gruppe nach einer gemeinsamen Vorbereitung in der Volkshochschule durch das Lottehaus begleitet habe. Denn anders als die vielen anderen Besucherinnen und Besucher, die sie in ihrer langjährigen museumspädagogischen Tätigkeit schon durch Wetzlars „Schmuckkästchen“ geführt hat, begnügten sich ihre Gäste dieses Mal nicht damit, die in den Vitrinen ausgestellten Übersetzungen von Goethes berühmtesten Roman Die Leiden des jungen Werthers durchs Glas zu bewundern. Sie wollten sie lesen – und zwar in ihrer jeweiligen Muttersprache. Arabisch, Japanisch, Persisch, Polnisch, Russisch, Thailändisch, Türkisch und Urdu, das waren die Sprachen, die sie dann auf der Werther-Wunschliste fand.
Vier Monate, ungezählte Telefonate und Mails in alle Welt später war auch der letzte Wunsch erfüllt, als sie die Urdu-Ausgabe direkt beim Übersetzer in Frankfurt abholte – und das, wie könnte es anders sein, am 28. August, Goethes 261. Geburtstag. Und während die Kursteilnehmerinnen und Kursteilnehmer dann in ihrem muttersprachlichen Werther lasen, zum Teil auch parallel zu der deutschen Fassung, begann für Frau Lehnert-Raabe erst das richtige Abenteuer. Denn bei einer gemeinsamen Zugfahrt von Frankfurt nach Wetzlar regte Michaela Staufer, die Leiterin der Wetzlarer Stadtbibliothek, an, in ihrem Haus eine Abteilung mit Werther-Übersetzungen einzurichten – zum einen, um die Internationalität des Romans am „authentischen“ Ort zu dokumentieren, zum anderen, um möglichst allen Wetzlarerinnen und Wetzlarern, egal welcher Herkunft, die Gelegenheit zu geben, den Roman in ihrer Muttersprache zu lesen – und das leihweise und kostenlos.
Fast unglaubliche Geschichten von Zufällen, glücklichen Begebenheiten, von hilfsbereiten Goethianern auf der ganzen Welt weiß Frau Lehnert-Raabe, die sich dazu bereit erklärt hatte, sich um die Beschaffung der Übersetzungen zu kümmern, zu erzählen, von Post aus Addis Abeba, aus Djakarta, aus Helsinki, aus Haifa, aus Tiflis, die Liste ist lang. Ohne die internationale Unterstützung all derer, die sich nicht zuletzt auch finanziell mit engagierten, indem sie die Werther-Ausgaben nicht nur organisierten, sondern auch noch verpackten, mit Begleitschreiben versahen, auf den Weg brachten, und das bis auf wenige Ausnahmen sogar noch als Geschenk, wäre das gesamte Projekt von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen.
Und so sind bis jetzt schon Werther-Übersetzungen in 53 Sprachen in Wetzlar eingetroffen. Vor wenigen Tagen kam endlich auch die so lang ersehnte Kopie der Tamil-Übersetzung an – direkt aus der Bibliothek des Goethe-Instituts in Chennai. Bemerkenswerterweise heißt hier übrigens der Werther gar nicht Werther, sondern „Liebeskummer“, und erfreut sich, wie die Leihstatistik beweist, großer Beliebtheit beim Lesepublikum. Fast aufgegeben hatte sie die Hoffnung, noch ein Exemplar der 1946 in Johannesburg veröffentlichten Afrikaans-Ausgabe zu bekommen. Scans vom Titelblatt und von einer original erhaltenen Kaufquittung aus dem Jahr 1947, freundlicherweise besorgt von einer Mitarbeiterin des Goethe-Instituts Johannesburg aus derRare-book-Abteilung der Universitätsbibliothek Johannesburg, das hatte sie schon.
Aber ein ganzes, echtes Exemplar, das war und ist der Traum von Frau Lehnert-Raabe, und es sieht so aus, als ob nun tatsächlich auch dieser Werther nach Hause zurückkehren würde. Aber richtig glauben wird sie es erst, wenn er wirklich da ist. Es sei jedes Mal wie Weihnachten und Geburtstag an einem Tag, meint sie, und auch die Postbotin weiß Bescheid, wenn wieder ein Päckchen aus der weiten Ferne, per Mail angekündigt, erwartet wird.
Aber natürlich gab und gibt es auch Enttäuschungen, Anfragen, die unbeantwortet bleiben, Mails, die verloren gehen, Telefonate, die nicht zustande kommen, selbst von einem Werther, der wieder an den Absender zurückgeschickt wurde , obwohl er richtig adressiert war, weiß sie zu berichten. Aber Aufgeben gilt nicht, und so hofft sie zuversichtlich, bis zur Ausstellung auch noch die Übersetzungen in Armenisch, Aserbaidschanisch und Baskisch zu bekommen
Einige wenige und besonders kostbare Exemplare wie eine Marathi-Ausgabe von 1929 oder eine mongolische aus dem Jahr 1966, die das Goethe-Haus in Frankfurt und die Deutsche Nationalbibliothek in Leipzig als Leihgabe zur Verfügung stellen , werden in Vitrinen gezeigt, alle anderen Ausgaben aber werden offen ausliegen. „Denn uns geht es“, so betont Frau Lehnert-Raabe, „ja gerade darum, den Werther aus der Vitrine herauszuholen, ihn vom musealen Ausstellungsstück wieder zu dem zu machen, was er eigentlich ist – ein Buch, das man in die Hand nehmen, in dem man blättern und nicht zuletzt auch lesen kann und das auch heute noch nichts von seiner Aktualität verloren hat, auch wenn ihn bei uns so manche primär als durchlittene schulische Pflichtlektüre in Erinnerung haben.“
Allein ein Blick auf die so unterschiedlichen, mitunter geradezu spektakulären Cover zeigt, dass der Roman im Ausland offensichtlich ganz anders gesehen und gelesen wird, eben nicht nur als der mehr oder weniger angestaubte Klassiker. Und so soll auch die Ausstellung zeigen, dass der Werther jung ist, dass er lebt, dass er uns auch heute noch etwas zu sagen hat, dass er weltoffen und international ist, so wie seine Leserschaft. Und so ist auch die Empore des Stadt- und Industriemuseums mit ihrer offenen, hellen, luftigen und modernen Architektur der ideale Standort, um genau dies zu vermitteln, genauso wie die Exponate, die die Bücher ergänzen – ob Schleifen in „palerose“, „gammel-rosa“, „pink“, „kamelie“ oder „blassroth“, eine Videoinstallation mit Werther zum Hören im Vorraum zum Viseum oder „Lottes Echte“ als Geschmackserlebnis – lebendig und bunt. So verspricht auch das Begleitprogramm zu werden mit einer ganz besonderenWerther-Lesung am 4. Juni und einem großen Fest am 9. Juni anlässlich des 240. Geburtstages jenes „reizendsten Schauspiels“, das nicht nur Goethe, sondern auch Wetzlar weltberühmt machte. Besonders freut sich Frau Lehnert-Raabe, dass sich ebenso spontan wie begeistert Schülerinnen und Schüler der Lotteschule, der Kestnerschule und der Goetheschule bereit gefunden haben, an diesem Abend mitzuwirken, an dem es für alle von allen, wenn nicht alles, aber doch vieles geben wird.